Beethoven, wie ihn kaum einer kennt
Das Kammerorchester an der TU Darmstadt spielt Raritäten im Herbstkonzert
REINHEIM/DARMSTADT – Takte aus Beethovens zehnter Sinfonie, eine Bach-Reger-Suite, Gabriel Faurés „Masques et Bergamasques“ und das Violinkonzert Nr. 2 von Sergej Prokofjew – das Kammerorchester an der TU Darmstadt und sein Dirigent Arndt Heyer sind bekannt für anspruchsvolle Konzertprogramme mit interessanten Raritäten. Doch das ambitionierte Programm ihres diesjährigen Herbstkonzerts, das in der Darmstädter Orangerie und in der Reinheimer Dreifaltigkeitskirche über die Bühne ging, lässt besonders aufhorchen.
„Rückbesinnung auf eine neue Einfachheit“ könnte über dem ersten Teil stehen. Bei Faurés Orchestersuite „Masques et Bergamasques“ von 1918 zelebriert das Orchester mit einem watteweichen Gesamtklang und der facettenreichen Herausarbeitung stilisierter Barocktänze das pastorale Naturidyll vergangener Rokoko-Zeiten.
Ein erster Höhepunkt ist anschließend Sebastian Gäßleins Interpretation des zweiten Violinkonzerts von Prokofjew aus dem Jahr 1935, das mit seiner klassischen Formen- und Themensprache zu Prokofjews Phase der neuen Einfachheit zählt. Gäßlein, der 2017 sein Konzertexamen an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf mit Auszeichnung ablegte und nun stellvertretender Konzertmeister am Staatstheater Darmstadt ist, macht sich Prokofjews Tonsprache überzeugend zu eigen. Tiefsinnig gelingt ihm die Fortspinnung der Iyrischen Themen, und selbst im virtuosen Finale mit vertracktem Dreivierteltakt behält er das große Ganze immer im Blick. Nahezu kammermusikalisch spinnen Solist und Orchester bestens aufeinander abgestimmt den melodischen Faden, verschränken sich kontrapunktisch und drängen gemeinsam nach vorne bis zum von viel Schlagwerk unterstützten abrupten Schlusspunkt.
Unbekannter Sinfoniesatz zum Schluss
Zwei „musikalische Experimente“ kündigt Heyer im zweiten Konzertteil an. Die „Bach-Reger-Suite“ in g-Moll spiegelt Regers Blick auf einige Klavierwerke des von ihm verehrten Johann Sebastian Bach wieder. Doch trotz der transparenten Spielwiese des Ensembles wirkt der barocke Meister hier etwas dick aufgetragen. Zum mit Spannung erwarteten Abschluss des Konzerts erklingt das Fragment des ersten Satzes der zehnten Sinfonie Beethovens, das der britische Musikwissenschaftler Barry Cooper auf der Basis von 350 von Beethoven skizzierten Takten rekonstruiert hat. „Keine Sensation, aber ein wunderschönes Stück Musik, das nach Beethoven klingt“, so Heyer.
Tatsächlich gelingt es dem Orchester mittels feiner Intonation und vorwärtstreibendem Gestus, vom Eingang im Unisono über ein verhaltenes Thema in Es-Dur in den Oboen und Hörnern bis zu einer düster-dramatischen Fortführung in c-Moll, Beethovens sinfonische Klangwelt heraufzubeschwören und das Publikum mit einem unbekannten Sinfoniesatz des Meisters zu begeistern.
Darmstädter Echo, 20. November 2018, Stefanie Steinert